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Ich "fühle" was, was du nicht siehst
Oder: Von der Ignoranz des Sehens

Was haben ein Maulwurf und ein Handwerker gemeinsam? Die Auflösung dieses Rätsels finden Sie am Ende meines Beitrages.

Ich gehöre wie Sie sicherlich auch zu den Menschen, die sich gern mit schönen Dingen umgeben und von Zeit zu Zeit Renovierungen im häuslichen Bereich vornehmen lassen. Zu diesem Zweck bemühen mein Mann und ich die "Zunft der Handwerker und ihrer Untergruppierungen".

Vor einigen Jahren fanden wir, dass unsere alte Küche nicht mehr besonders attraktiv aussähe. Eine neue wurde ausgesucht. Hierbei wählte ich als Abdeck- und Arbeitsfläche eine Granitplatte, die unempfindlich gegen Lebensmittelverfärbungen ist und sich hervorragend reinigen läßt. Diese Abdeckung musste zwar speziell nach Maß angefertigt werden und wurde von einer Steinmetzfirma geliefert. Ich war sehr stolz, als die schwere Platte endlich meine Unterschränke zierte und die Handwerker sich nach stundenlangem Mühen mit einem Trinkgeld in der Tasche verabschiedeten. Nach Trocknen des Silikons glitten meine Optacon erprobten Finger über die glatten Flächen. Was war das? Fünf winzige Löcher verunstalteten die Neuanschaffung. Reklamationen sollte man - selbst wenn es unangenehm ist - sofort tätigen. Also mussten wir die verantwortliche Küchenfirma herbeizitieren. "Aber das sieht man doch kaum." Eine Reaktion, die mir inzwischen geläufig ist. Der Fehler wurde ausgebessert. Wir hätten sonst einen Teil des Rechnungsbetrages einbehalten.

Den nächsten "Sehfehler" bei den herbeigerufenen "guten Geistern" stellte ich fest, als ich Fußleisten verlegen ließ. Diese Arbeit wurde zwar ordentlich ausgeführt, aber das an die Leisten angrenzende Parkett schob sich nach Beendigung der Arbeit in die Höhe. Klar war, dass man "das ja kaum sähe". Nur ich war da etwas anderer Meinung. Auch dieser Schaden konnte behoben werden.

Der 3. Fall, der für mich gewisse Parallelen zwischen Maulwürfen und Handwerkern vermuten lässt, ereignete sich kürzlich. Wir ließen unsere Fenster gänzlich, also nicht nur die Scheiben, erneuern. Nun lässt sich das schwierig ausführen, und da passierte es wohl. Ratsch, war die Marmorfensterbank gerissen. Soll ich den Satz, den der fleißige Handwerksgeselle meinem Mann sagte, wirklich hier noch einmal aufschreiben. "Das sieht man doch gar nicht." Da ich inzwischen sehr misstrauisch geworden bin, schaue ich mir jede Arbeit selbst an. Der herbeizitierte Tischlermeister war ebenfalls von der "Unsichtbarkeit" des Spaltes überzeugt. Wir haben den Schaden durch Austausch der Fensterbank ersetzt bekommen. Übrigens, unser Tischlermeister ist fasziniert, was man durch "Feingefühl" alles "sehen" kann.

Und nun die Auflösung des Rätsels: Handwerker und Maulwürfe "wühlen" und können sehr, sehr schlecht sehen.

Gisela Bechler

Aus: "Die Gegenwart", Zeitschrift des DBSV, Nr. 11, November 2001.
Weitere ausgewählte Artikel aus der "Gegenwart" finden Sie auf der Homepage des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes.

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Erstellt am Fr, 13.12.02, 07:46:09 Uhr.
URL: http://www.anderssehen.at/alltag/berichte/maulwurf.shtml

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