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Grund und Boden

Wenn jemand mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht, gilt er als bodenständig, solide und vertrauenswürdig, aber wer achtet schon auf den Untergrund, das Fundament, was wir achtlos täglich mit Füßen treten? Der Grund warum ich mich plötzlich dafür interessiere, war ein Anruf: "Komm mit, wir wollen Ampeln begehen." Ich fiel schon bei dem Gedanken daran vor Langeweile schier um. Ging ich nicht täglich über Ampeln? Was war da schon dabei? Wozu bis nach Gießen dafür fahren?

Ich tat es trotzdem und so bauten sich Ilona und ich in der Mittagssonne vorm Karstadt auf und blinzelten mit vorgehaltener Hand wie Indianer gegen das gleißende Sonnenlicht. Wir warteten auf den Experten. Der kam, sah, begrüßte knapp und kam gleich zur Sache. Eine Flut von Informationen und fremden Vokabular schwappte über mir zusammen und mein Körper schaltete alle Symptome auf Flucht. Ein sehr wirksames Gegenmittel bei anschleichenden Ohnmachtsgefühlen ist es, Aktiv zu werden. Ich machte den Vorschlag die Straße längs zu gehen und alles vor Ort in Augenschein zu nehmen. Wir trollten uns.

Schon an der ersten Querstraße wurde ich zurückgepfiffen, denn ich hatte den hellen Läuferstein nicht bemerkt. Er markiert die Stelle am Bordstein, wo man die Straße am gefahrlosesten überqueren kann. Nun ging ich etwas bedächtiger und bemerkte ein Noppenpflaster. Gut durchgerüttelt bringt es den Passanten zur Ampel. Leider beuteln einen auch die gephasten Pflastersteine schon so, daß man oftmals am Aufmerksamkeitsfeld völlig desensibilisiert ist. Gephaste Steine haben eine abgeschrägte Kante und mit der entstandenen Zwischenrille rüttelt es den Stockgeher durch. Allmählich entspannte ich mich und fing Feuer an dem kuriosen Vokabular. Ich liebe ausdrucksstarke Worte und habe schon eine schöne Sammlung. Bei Worten wie: Landkartenkegelschnecke, Akkustischer Kurzschluß, Schienenschubstange oder Bilirubinspiegel geht es nicht um den Inhalt, sondern wie es über die Zunge rollt, sich anfühlt, aber nun mußte ich mich auch auf die Bedeutung konzentrieren.

An der Ampel angekommen, wurde das Vokabular wässrig. Die Ampel wird zum "akkustischen Leuchtturm". Die markierte Stelle zwischen den Leuchttürmen ist die "Fußgänger-Furt", denn man überquert ja den Verkehrsstrom... und hofft, man geht nicht unter. An einem blindengerechten akkustischen Leuchtturm sollte ein Anforderungsgerät installiert sein. Ich nenn die Dinger Klackerkästchen, aber das muß ich mir wohl abgewöhnen. "Die Anforderungsgeräte", hörte ich, "befinden sich an der furtabgewandten Seite. Griffiger ist es allerdings, wenn die Teile seitwärts angebracht sind. Obenauf ist die "Vibrationsplatte" mit dem Pfeil, der strack auf die Ampel auf der anderen Straßenseite zeigt."

Mein Spieltrieb wurde befriedigt, als ich unten an dem Klackerkästlein einen Knopf fand, der bei Grün Töne macht. Ein Tröten im Nacken, eines vorne, so wird man akkustisch über die Straße geführt. Bei der von uns begangenen Ampel hätte man aber Ohren wie Fledermäuse haben müssen oder das Ohr zusätzlich zur Hand noch an den Kasten legen. Danach ist man ein Fall für den Orthopäden.

Sei´s drum, wir kamen heil über die Straße und wurden dort von einem Leitstreifen empfangen. Nein, eigentlich wurden wir von einem Paar empfangen. Keinen Leitstreifen ohne Begleitstreifen. Die gibt es nur im Doppelpack. Der Begleiter soll die Aufmerksamkeit auf den Leiter lenken, indem er optisch und taktil kontrastiert. Gegensätze, die sich ergänzen. Mir kamen einige meiner Beziehungen in den Sinn.

Zurück zum echten Leben! Wir enterten den Stadtbus und gingen am Marktplatz an Land. Der soll umgestaltet werden und zwar so, daß er von der Luft aus aussieht, als habe man Mikadostäbchen geworfen. Nette Idee, aber die Passanten warten auf den Bus und nicht auf den nächsten Flieger. Soviel zum Alltagsbezug der Architekten, die wahrscheinlich nie Bus fahren.

Wir zogen weiter und ankerten in einem Cafe. Die Leidenschaft des Experten für das Thema beeindruckte mich. Nun wollte ich wissen, wie es denn dazu gekommen war.

Vom Vater, einem Landschaftsgärtner, schon mit der Vielfalt von Bodenbeschaffenheiten vertraut, war noch der Beruf des Mobilitätstrainers dazugekommen. Mit den eingeschränkten Wahrnehmungen konfrontiert, nach Lösungen suchend, tat sich ein großes Feld für Kreativität auf diesem Sektor auf. Wer braucht was, um mit seinen individuellen Grenzen sich optimal im Verkehr orientieren und bewegen zu können? Schier zirkusreif wird es, wenn die DIN-Normen dazukommen, das Budget der Stadt stark eingeschränkt ist. Optimale Lösungen mit einem Minimum an Aufwand. Das klang sehr reizvoll. Eine echte Herausforderung. Ich notierte, hörte.... plötzlich ein Scharren um uns herum. Als ich mich umsah, war der Seltersweg schon menschenleer. Die Bedienung hatte alle Stühle und Tische um uns herum abgebaut.

Drei Stunden, DREI Stunden hatte ich aufmerksam zugehört, mich wirklich interessiert; und ich bin mir sicher, es war die Leidenschaft meines Gegenüber für das Thema, was mich so fesselte, die Brücke baute für die Inhalte.

Als ich heimging, überlegte ich, für was ICH mich denn leidenschaftlich interessiere. Beschämenderweise fiel mir nichts ein. Stecke ich jemanden mit meinem inneren Feuer an? Eher nicht. Ich arbeite daran.... und mittlerweile habe ich ein Auge für den Boden, der mir Halt gibt und Orientierung und lerne ihn im Detail kennen und zu würdigen.

Eine ganze Ecke bewußter durchs Leben gehend, grüßt

Ulrike Geilfus

Blindengerecht gestaltete Kreuzung

Blindengerecht gestaltete Kreuzung

Das Foto zeigt an einer komplexen T-Kreuzung mit mindestens vierspurigen Fahrbahnen die barrierefreie, blindengerechte Verkehrsraumgestaltung nach folgenden Kriterien:

Gert Willumeit

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© 2004 by Ulrike Geilfus/Gert Willumeit
Erstellt am Fr, 15.10.04, 10:01:19 Uhr.
URL: http://www.anderssehen.at/alltag/unterw/boden.shtml

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