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Nachruf auf Ingeborg Prugg
Erinnerung an meine Freundin

Blindsein ist manchmal wirklich zum Lachen: Neben dem Grazer Universitätshauptgebäude befindet sich eine größere Grünfläche, umgeben von einem Weg, der in etwa ein Rechteck beschreibt. Inge und ich nutzten sie regelmäßig, um unseren Blindenführhunden in der Mittagspause etwas Auslauf zu gönnen. Oft drehten wir dort gemeinsam und mit anderen Kolleginnen unsere Runden, manchmal auch zu verschiedenen Zeiten. Eine Woche vor Inges Tod drehte ich dort mit dem Langstock einige Runden, während mein Hund frei hatte und die neuesten Duftmarken kontrollierte. Ich war tief in Gedanken versunken und bemerkte erst allmählich, dass sich offenbar noch ein zweiter Hund auf der Wiese befand. Bei genauerem Hinhören erkannte ich den vertrauten Ton der kleinen Glocke, die Inge ihrem Hund beim Freilauf am Halsband befestigt hatte, und bei noch genauerem Hinhören hörte ich auch das rhythmische Geräusch von Inges Langstock. Ich blieb nun stehen und wartete, bis sie mich erreicht hatte. Wir stellten fest, dass wir wahrscheinlich schon mehrere Minuten gleichzeitig unsere Runden gedreht hatten, in derselben Richtung, in etwa demselben Tempo und Abstand, beide in Gedanken versunken, ohne einander zu bemerken. Wir lachten herzlich, denn so etwas kann ja wirklich nur zwei Blinden passieren.

Viele Begebenheiten oder Verhaltensweisen anderer Menschen enthalten einiges an Situationskomik. Aber auch echte Ärgernisse und Kränkungen lassen sich oft leichter ertragen, wenn man sie ins Lächerliche zieht. In dieser Hinsicht wusste ich mich mit Inge ganz auf einer Linie. Aber auch wenn es darum ging, Erfahrungen oder Probleme ernsthaft zu besprechen, fühlte ich mich bei ihr immer verstanden und gut aufgehoben. Ich kannte Inge schon seit meinem Eintritt in die Volksschule des Odilien-Institutes 1971. Unsere innige Freundschaft entwickelte sich aber erst, als Inge 1993 ihre Arbeitsstelle an der Universitätsbibliothek der Universität Graz antrat. Ihre Aufgabe dort war es, für blinde Studierende die schriftlichen Studienunterlagen einzuscannen, zu korrigieren und je nach Bedarf als Diskette für den PC mit Braillezeile oder als Brailleausdruck auf Papier lesbar zu machen. Ich studierte damals Pädagogik und brachte viele meiner Bücher zu ihr. So ergaben sich viele lockere Plaudereien über Gott und die Welt, aber auch intensive Gespräche - nicht zuletzt über die Bücher, die sie für mich aufbereitete. Denn für Inge war ihr Beruf weit mehr als sich eben den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie liebte es zu lesen und interessierte sich für viele Themen. Deshalb war sie besonders glücklich, an der Universitätsbibliothek arbeiten zu können, wo ihr sozusagen das ganze Universum der Bücher offen stand. Dass ihr einmal ein anderer potentieller Arbeitgeber die Fähigkeit absprach, wissenschaftliche Bücher verstehen zu können, war eine tiefe Kränkung, die sie nie ganz verwinden konnte. Deshalb kämpfte sie darum, nach dem halbjährigen Praktikum fest an der Universitätsbibliothek angestellt zu werden, was mit Unterstützung der Bibliotheksdirektorin auch gelang. Eigenschaften, die ich an Inge besonders mochte, waren ihr Humor mit einem guten Schuss Selbstironie und ihre vitale, kraftvolle Art, das Leben anzugehen - ohne jedes Selbstmitleid. Ein Laternenmast, der sich hinterhältig der Wahrnehmung mit dem Langstock entzog und Inge eine Beule verursachte, bekam einen kräftigen Hieb mit dem Stock - den hatte er sich auch verdient - und damit war die Sache erledigt. Was Inge oftmals wirklich verletzte, waren Vorurteile und Geringschätzung anderer Menschen ausschließlich aufgrund ihrer Blindheit, wenn ihre Fähigkeiten und ihr Frausein nicht ernst genommen oder gar nicht wahrgenommen wurden und sie nicht als vollwertiger Mensch gesehen wurde. Inge war aber auch eine sehr einfühlsame Zuhörerin und hat mir gerade in einer für mich sehr schwierigen Lebenssituation durch ihren Zuspruch und ihre Anerkennung viel Mut gemacht. Als Inge ihren Blindenführhund bekam, hatten wir eine weitere Gemeinsamkeit und ein fast unerschöpfliches Thema, und als mein Sohn zur Welt kam, habe ich von ihrer damals bereits fünfzehnjährigen Erfahrung als Mutter in einigem profitiert. Bei ihrem großen Interesse an ihren Mitmenschen hielt sich Inge mit ihren eigenen Problemen und Sorgen immer sehr zurück, wollte möglichst niemanden belasten und versuchte, alle Schwierigkeiten aus eigener Kraft zu bewältigen. So konnten und können alle ihre Freunde nur erahnen, wie unendlich schwierig und belastet ihre persönliche Lebenssituation schon seit langem gewesen sein muss. Und ich frage mich, so wie viele andere, ob wir, hätten wir mehr gewusst, verhindern hätten können, dass sie durch eine so furchtbare Tat aus dem Leben gerissen wurde, gerade zu einem Zeitpunkt, als sie einen wirklichen Neuanfang gemacht hatte und so optimistisch in die Zukunft blickte. Doch ich weiß, Inge würde es wünschen, dass wir vor allem an die schönen und vergnügten Zeiten denken, die wir zusammen verbracht haben. Und so bleibt für mich die Dankbarkeit für die Zeit unserer Freundschaft und die Gewissheit, dass wir dort, wo wir uns einmal wiedertreffen, wieder viel miteinander lachen werden.

Barbara Levc, auch im Namen vieler Freunde und Freundinnen im Odilien-Institut

Inge Prugg war seit der Gründung des Fördervereines Odilien-Institut im Vorstand. Sie wirkte vor allem bei der barrierefreien Gestaltung der Stadt Graz mit.

Aus: "Odilien-Institut im Blickpunkt", Folge 53, September 2002

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Erstellt am Fr, 03.10.02, 12:01:19 Uhr.
URL: http://www.anderssehen.at/alltag/berichte/nachruf.shtml

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