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Kurzgeschichte:
Vergilbte Blätter
Von Helmut Pätz

Er sah seinem Vater nach, bis dieser den Garten durchquert und den Wagen bestiegen hatte. Jetzt war er allein, frei, und doch lag eine Last auf ihm, die ihn einengte, ohne dass er zu sagen wusste, was es war.

Er wandte sich vom Fenster ab und ging nach nebenan in sein Arbeitszimmer. Am Schreibtisch blieb er stehen, stieß mit dem Finger gegen den Globus und ließ ihn wieder ausrollen. Dann tupfte er auf irgendeine Stelle und dachte, dass er der einsamste Mensch auf der Welt sei. Ja, und auf einmal wusste er, dass es die Einsamkeit war, die ihn bedrückte und dass er sie noch nie so deutliche gespürt hatte, eine Einsamkeit, verstärkt noch durch all die vielen Ablenkungen, in die er hineingetaumelt war. Jetzt, da er sie zu verdrängen suchte, fühlte er sie fast körperlich greifbar. Kaum noch dachte er an Wilma und Jo, mit denen er für heute Nachmittag zum Segeln verabredet war. Dabei war das Wetter herrlich, ja, zum Segeln geradezu ideal. Man würde gut im Wind liegen.

Aber was bedeutete ihm das schon - Wilma, Jo, das Segeln und die vielen, albernen und nichtssagenden Gespräche, die sie miteinander führen würden und von denen er immer schon im voraus wusste, wie sie verliefen. Ob Wilmas und Jos Eltern auch so wenig Zeit hatten für ihre Kinder wie sein Vater für ihn?

Er würde sie nachher anrufen, - nein, gleich, sich unter irgendeinem Vorwand entschuldigen. Er hatte einfach keine Lust. Wieder dachte er an seinen Vater und dann daran, dass morgen wieder eine Woche zu Ende ging, eine Woche von vielen. Er trat an die Bücherwand, nahm wahllos einen Band heraus, blätterte darin und stellte ihn wieder ins Regal zurück. Eine ganze Wand voller Bücher. Ob sein Vater sie alle gelesen hatte? Bestimmt nicht. Er hatte ja nicht einmal Zeit gehabt für seinen einzigen Sohn. Morgens sahen sie sich kaum, mittags nur kurz beim Essen. Voller Missmut dachte er an Vaters gewollt kameradschaftlichen Schulterschlag und an sein obligates, noch in gewohntem Geschäftsoptimismus erstarrtes Lächeln. Es gab nichts, was man sich in der kurzen, noch verbliebenen Zeit zu sagen hatte. Sie wussten kaum noch etwas voneinander.

Er nahm noch ein zweites Buch aus dem Regal, und da fielen ihm aus der dämmrigen Lücke ein paar Blätter entgegen, wie man sie vor vielen Jahren aus einem Briefblock herausgerissen haben mochte. Sie waren vergilbt. Er erkannte die steile, akkurate Handschrift seines Vaters, eckiger, ungelenker zwar als heute, aber doch unverkennbar.

Er zögerte, wollte die Blätter zurücklegen, aber da hatte er die ersten Worte schon in sich aufgenommen, dann die ersten Sätze. Reime waren es, stellte er voller Verwunderung fest, Gedichte. Keine, wie man sie in einer Zeitschrift oder gar einem Buch lesen konnte. Es waren Verse, ungehobelt und unvollendet, wie ein Mensch sie niederschreibt, der jung und ratlos, außer einem einfachen karierten Blatt Papier niemanden hatte, dem er sich anvertrauen konnte.

Er setzte sich, vertiefte sich in das Geschriebene und erkannte sich selber wieder in diesen Zeilen, sich selbst und seine eigene Verlassenheit, zugleich aber, wie ein Spiegelbild, undeutlich fern erst, dann immer deutlicher, den Vater - einen hilfe- und liebesuchenden Menschen wie er selber. Einer, der sich herumgeschlagen haben musste mit ähnlichen Problemen, fast den gleichen bohrenden Fragen. Genau wie er ...

"Du, Vater", sagte er beim Abendessen, ohne aufzusehen. Er zögerte. "... wir könnten einen Spaziergang machen, morgen früh ... wenn du Zeit und Lust hast natürlich, meine ich ..."

Der Vater war überrascht und es verging eine Weile, ehe er antwortete. "Ob ich Zeit habe? ... Ja, gehst du denn nicht zum Segeln mit deinen Freunden?"

Der Junge schüttelte den Kopf. Dann blickte er auf.

"Morgen nicht ... wenn du ...?"

Da fühlte er plötzlich, wie sich eine Hand auf seinen Arm legt. Und ein Stückchen ihrer Fremdheit war abgebröckelt. Dann schwiegen sie wieder. Aber es war ein gutes Schweigen ...

Aus: "Die Gegenwart", Zeitschrift des DBSV, Nr. 1, Jänner 2002.
Weitere ausgewählte Artikel aus der "Gegenwart" finden Sie auf der Homepage des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes.

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Erstellt am Mo, 28.01.02, 08:01:19 Uhr.
URL: http://www.anderssehen.at/autoren/blatt.shtml

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