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Die ganz besondere Postkarte
- Kurzgeschichte von Gisela Bechler -

Herta lief die Maschseepromenade entlang. Sie kam aus der Schule, hatte die Mütze fest auf den Kopf gedrückt, denn es war ein stürmischer, regnerischer Tag. Blätter jagten vor ihr her. Bald lief sie mit ihnen um die Wette. "Wer zuerst an dem nächsten Baum ist," so oder ähnlich nannte sie ihre Spielerein. Plötzlich mischte sich zwischen das Laub ein rechteckiges Stück Papier. Herta beschleunigte ihr Tempo: "Dich kriege ich!", übermütig klang ihre Stimme. Sie hatte das Gefühl, sie hetze hinter einer ganz besonderen Beute her, die ihr der Wind aber wegnehmen wollte. Endlich - der Sturm hatte eine ganz kurze Pause eingelegt - beugte sie sich ganz rasch nieder und hielt eine nasse, schmutzige Postkarte in Händen. "Pfui", kam es aus dem Kindermund. Sie wollte die Karte schon weit von sich wegschleudern, da fiel ihr auf, dass darauf etwas stand. Hertas Neugier war geweckt. Sie konnte mit ihren 8 Jahren schon sehr gut lesen, und verstand schon recht gut, was sie las. Die Eltern hielten sie deshalb für "hoch begabt" und wollten sie auf eine besondere Schule schicken, wo man viel mehr lernen mußte, als auf der Grundschule. Wenn man Herta fragte, hielt sie das alles für übertrieben. Sie wollte bei den netten Freundinnen und Lehrern bleiben und viel Zeit zum Träumen haben.

Sie begann die aufgeweichte Postkarte zu lesen:
"Liebe Tante Milli, wir bekommen am 22. Dezember Ferien. Ich freue mich, dass Du mich zu Weihnachten eingeladen hast. Seit meine Eltern in Scheidung leben, ist es zu Hause nicht mehr schön. Mutter und Vater streiten dauernd, und wenn ich aus dem Internat komme, weiss ich gar nicht, wo ich hin soll. Ausserdem sind meine Augen in letzter Zeit so schlecht geworden, dass ich nicht ohne weissen Stock gehen kann. Vater verbietet mir das aber, weil er sich vor den Nachbarn meinetwegen schämt. Bitte, hole mich am 22. Dezember um 16 Uhr am Hannoverschen Hauptbahnhof ab. Ich Sitze im ICE aus Nürnberg. Deine Sina"

Die Finderin der Karte machte sich ihre Gedanken. Wer war diese Tante Milli. Sie drehte den nassen, etwas ekeligen Fetzen auf die andere Seite. Die Anschrift konnte man nicht mehr lesen, so verschmutzt war sie. Nur der Text, fein säuberlich mit der Maschine geschrieben, hatte den Regen verkraftet. Wie kam die wichtige Nachricht hier auf den Weg? Das Hochbegabtenhirn begann auf Tour zu kommen. Hatte Tante Milli diese Karte überhaupt gelesen? Und was würde geschehen, wenn Sina in 2 Tagen völlig verlassen auf dem Bahnsteig stünde, weil Tante Milli nichts von ihrer Ankunft ahnte. Sie, Herta, wusste, dass Sina nicht sehen konnte. Musste man da nicht helfen?

Der 22. Dezember war übermorgen. Herta würde keine Schularbeiten mehr machen müssen. Es gab ja Ferien, also hatte sie um 16 Uhr frei. Mutter wollte zwar mit ihr in die Oper, "Hänsel und Gretel" zum Einstimmen auf Weihnachten, vielleicht konnte man einer spätere Aufführung besuchen. Herta wusste ganz plötzlich, dass sie zum Bahnhof gehen müsste. Dort wollte sie nach einem Mädchen mit einem langen, weissen Stock Ausschau halten. Wenn Tante Milli auch dort war, wollte sie nur kurz "Guten Tag!" sagen und die Karte abgeben, wenn aber niemand Sina erwartete, wollte sie sie zu ihrer Ferienadresse bringen. Auf jeden Fall war es ihr Wunsch, Sina kennen zu lernen.

Herta verbarg die durchweichte Postkarte in ihrem Ranzen, straffte die Schultern und strebte selbstbewusst ihrem Zuhause entgegen. Die Mutter wartete schon besorgt: "Wo warst du so lange? Du bist ja ganz naß." Herta ging auf die Fragen nicht ein. "Mütter fragen manchmal etwas zu viel". Sie trank widerwillig den gräßlichen Pfefferminztee und ging dann ihrerseits zum Fragen über. "Sag mal, Mutti, wie kommt man am besten zum Bahnhof?" "Warum willst du das wissen?" "Ach, wir haben gerade so ein lustiges Spiel erfunden, in dem wir uns gegenseitig Aufgaben stellen, zum Beispiel: Wie kommt man schnell zur Marktkirche? Ich hatte den Bahnhof erwischt und sollte nun einen Plan mit der Straßenbahn angeben. Leider fahren wir ja immer mit dem Auto, da wusste ich das nicht." Die Mutter suchte im guten Glauben die Strassenbahnverbindungen von ihrer Wohnung zum Bahnhof heraus. Herta merkte sich alles ganz genau. Dann war noch eine Hürde zu nehmen: "Müssen wir eigentlich am 22. Dezember um 16 Uhr in die Oper?" "Herta, ich verstehe dich nicht, du hast doch die Musik von Humperding so gern, aber wenn du meinst ..." "Ich würde viel lieber abends in die Oper gehen. Da ist es leiser, weil nicht so viele Kinder dort sind." Die Mutter lächelte in sich hinein. "Sieh an, ihre kleine Tochter wollte schon ungestört Musik hören. Das musste sie unbedingt dem Vater erzählen. "Ich werde mich bemühen, Karten für die Abendvorstellung zu bekommen."

"Geschafft!", Herta atmete auf. Jetzt stand ihrem Besuch auf dem Bahnhof fast nichts mehr im Wege. Das Sparschwein musste natürlich "geschlachtet" werden, denn sie brauchte Fahrkarten und vielleicht könnte man Sina ja auch ein kleines Geschenk mitbringen.

Pünktlich am 22. Dezember um 15.50 Uhr drängte sich ein kleines Mädchen durch die Menschenmassen zur Auskunft. "Können Sie mir sagen, wo der ICE aus Nürnberg hält?" Herta versuchte ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen. Der Beamte Lächelte: "Du willst sicher die Mama abholen, Gleis 9". Herta rannte so schnell sie ihre Füße trugen, benutzte die Rolltreppe und hörte, dass der Zug aus Nürnberg 20 Minuten Verspätung habe. Der Bahnsteig wimmelte vor Menschen. Konnte das da drüben Tante Milli sein? Nein, die sah zu modern aus. Milli war sicher schon älter, der Name hörte sich so an. Vielleicht war es die Frau mit dem komischen Hut. Hertas Fantasie schlug Purzelbäume. Endlich hielt der ICE aus Nürnberg. Herta hatte Glück. Aus dem Wagen, der unmittelbar vor ihr hielt, stieg ein junges Mädchen mit weissem Stock. Der Schaffner reichte ihm die Hand: "Werden Sie abgeholt?", "Ja, ich warte hier auf meine Tante:" Das musste Sina sein. Herta, das mutige Kind, wurde ganz schüchtern. Wie schön Sina aussah, dunkle Locken, roter Mantel und eine hübsche Brille. Aber wo blieb die Tante. Der Zug fuhr Richtung Hamburg weiter. Sina wurde unruhig. Tastend bewegte sie ihren Stock. Da faßte sich Herta ein Herz: "Verzeihung, heißen Sie Sina, und warten Sie auf Tante Milli?" "Ja, ja, aber wer bist du?"

Herta erzählte die Geschichte vom Wind und der Karte, von der Mutter und der Oper usw. Sina gewann allmählich ein Bild von dem, was passiert sein könnte. Sie war immerhin 16 Jahre alt, und so entschied sie: "Wir werden jetzt noch eine Weile auf Tante Milli warten. Kommt sie nicht, hat sie diese Karte nie erhalten. Dann müssen wir sie in ihrer Wohnung überraschen. Es ist so lieb von dir, dass du mir dabei hilfst."

Herta und Sina machten sich nach geraumer Zeit auf den Weg zu Tante Milli. Sie hatten grosse Mühe, mit dem schweren Koffer im Weihnachtsverkehr zurecht zu kommen. Herta nahm alle Kraft zusammen, fragte hier und dort, schließlich konnte eine überglückliche Tante Milli ihre Nichte in Empfang nehmen. Sie hatte keine Nachricht erhalten. schon mehrfach in Sinas Internatsschule angerufen, aber dort ging niemand mehr ans Telefon. Es waren eben Ferien. Die Karte mußte dem Zusteller aus der schweren Tasche gerutscht sein.

Wie gut, dass es Herta gab. Die guckte aber ziemlich entsetzt auf ihre Armbanduhr. "Oh, meine Mutti wird schimpfen, denn wir wollten heute noch in die Oper."

Tante Milli rief Hertas Mutter an, erzählte die ganze Geschichte. Die Mutter war wieder einmal fasziniert von ihrem hochbegabten Kind. Für sie zählte Intelligenz mehr als Herz. Dennoch hatte sie eine Idee. "Ich komme gleich und hole dich, Sina und Tante Milli ab. Wir werden versuchen, an der Abendkasse noch Karten für die Oper hinzuzukaufen. Wie schön wird es für Sina sein, mit uns einen Abend zu verbringen." Als zu Weihnachten Herta und ihre Eltern mit Tante Milli und Sina in der geschmückten Wohnstube saßen, freute man sich, daß der Zusteller die Postkarte verloren und der Wind sie zu Herta getragen hatte, denn neue Freundschaften wurden geknüpft.

Gisela Bechler

© 2001 by Gisela Bechler
(Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

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Erstellt am Sa, 22.12.01, 08:16:29 Uhr.
URL: http://www.anderssehen.at/autoren/weih.shtml

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