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Aus-Lese

Seit meiner Star-OP kann ich wieder 5 Buchstaben am Stück klar und deutlich erkennen. Lesen ist ein Genuss und Augen und Hirn brauchen Futter. Meine Idealvorstellung ist, einfach im Nachthemd ins Gästezimmer zu schlurfen und dort aus zig ungelesenen Büchern meinen Favoriten auswählen zu können. Die Krönung sollte sein, alles zum Null-Tarif zu bekommen. Möglichst frei Haus.

Da kam mir die Idee der Aus-lese. Ich entwarf kleine Kärtchen mit dem Aufdruck: "Wohin mit der Aus-Lese? Reiche ihre alten Bücher gern in gute Hände weiter." Bücher wegzuwerfen wird weithin als Frevel betrachtet. Bücher eröffnen Welten, lassen Erinnerungen auferstehen, innere Bilder erschließen sich, und dann das Buch an sich! Da gibt es die von Rauchern, die Modrigen, die irgendwo feucht lagerten, dann welche die einfach nach trockenem Staub und Alter riechen, bzw. duften. Die jungfräulichen ungelesenen knacken beim Aufschlagen. Manche großen Bücher sind federleicht, kleine hingegen können schwer wiegen, weil die Seiten hauchdünn sind. Glatte Seiten, rauhes, weiches Papier. Manchmal ist sogar die Zeile zu fühlen. Das kommt von einer sehr alten Drucktechnik. Das Buch mit seinem Material, und Gerüchen erzählt von seinem Leben... aber nicht nur das. Auch der Leser,... aber ich greife voraus.

Ich nahm meine Kärtchen und ging auf die Jagd. Wohin bringen Leute ihre alten Bücher, wenn sie sie loswerden wollen? Klar, erstmal bei der Bücherei anfragen. Da die schon aus allen Nähten quillt, fing ich mit meiner Aquise dort an und hatte gute Resonanz. Nach ein paar Wochen kam ein Wagen mit Arbeitern der Stadtverwaltung, die eine Kiste nach der anderen in meine Wohnung schleppten. Ich schwelgte in alten Kinderbüchern, deren Zeichnungen oft wunderschön sind. Ich las Krimis, bei denen die Krönung der Technik der dritte Sender im Radio war. Keine Handys, keine PCs, aber trotzdem wirklich - für die damalige Zeit - moderne Krimis.

Im Bekanntenkreis ließ ich auch keine Gelegenheit aus, mein Angebot zu unterbreiten. "Möchtest du mal deine Regale lüften? Platz für neues schaffen?" Es ist erstaunlich, was meist noch von vorigen Generationen herumliegt. Auch bei Trennungen fallen viele Bücher an, oder wenn jemand umzieht und endlich die Gelegenheit nutzt zu entrümpeln. Angehörige von Alzheimerpatienten räumen aus, immer soweit wie der Besitzer auch aus seinem Gedächtnis "Akten" verliert.

jedesmal, wenn eine Freundin mit einem Karton Büchern kommt, koche ich Tee, wir halten ein Schwätzchen und meist zieht sie mit einigen anderen Büchern wieder davon. Letzte Woche bekam ich die Aus-Lese eines Pfarrers, der in Ruhestand geht. Ich kochte wieder Tee, buk noch Plätzchen und lud Studenten aus der freien theologischen Akademie ein. Das war ein Kommen und Gehen! Gekruschel in den Kisten, Seitenrascheln, Kommentare, die hin und her gehen, freudige Schreie... eine schöne Geräuschkulisse.

Wildfremde rufen mittlerweile bei mir an, um ihre Bücher gut unterzubringen. Es ist immer wieder spannend, neue Leute kennenzulernen. Und das was sie mir beim Tee nicht erzählen, erzählen mir ihre Bücher. Wenn ein Mensch von 40 Jahren Bücher aussortiert, dann kann ich gut daran sehen, was in diesen Jahrzehnten für Themen aktuell waren. Der obligatorische Simmel und Konsalik, später Ratgeber für Scheidung, kistenweise Frauenliteratur (die neue Frau), Wechseljahre und Frau mit 40, später mehr religiöses (die Leserin wird sich ihrer Endlichkeit wohl bewußt), und -hoppla - wieder mehr Männerbücher. Ob da nun wieder ein Mann im Haus ist?

Mittlerweile weiß ich die Lieblingsthemen von vielen meiner Freunde und bei jeder Ladung Lesestoff sortiere ich schon vor. Auf meinem Teppich häufeln sich Stalakmiten. Die Favoriten sind meinem Bett am nächsten. Noch'n Tee, Lesebrille und lesen, lesen, lesen...

Natürlich muß ich dafür sorgen, nicht im Ge-büch zu ersticken. Alles was ich nicht verteilen kann, kommt zu den Diakonissen auf den Altenberg bei Wetzlar. Die machen zweimal im Jahr einen Riesenflohmarkt und sämtliche Büchernarren treffen sich dort. Der Bestatter, der für den Altenberg Bücher vorsortierte, ächzte bei den Mengen, die ich anlieferte und stöhnte: "Ach du Scheiße..". Ich rüffelte ihn, denn der Text muß heißen: "Gelobt sei der Herr, der uns so gut versorgt." Da mußte er lachen, aber das Vorsortieren verweigerte er. Seitdem bin ich die Vorsortiererin und habe Beziehungen zu einem Neckermannkatalogmenschen aufgenommen, der wunderfeine kleine Kartons hat mit denen er mich beliefert.

Leider kann ich nicht Autofahren, aber die Drehbuchautorin (sie erinnern sich an Henriette vom Film Blindes Vertrauen?) macht den Shuttle-service zum Altenberg. Ihr alter BMW ächzt in den Achsen, die Oberdiakonisse freut sich, und wir haben auch unseren Spaß. Henriette sammelt Liederbücher ...

Die Aus-Lese hat mir nicht nur Lesestoff gebracht, sondern jede Menge Kontakte mit spannenden Menschen und auf jeder Ebene neue Impulse. Jetzt mach ich mir was aus dem mittelalterlichen Kochbuch: "Wie man eyn teutsches Mannsbild bey Kräfften hält", wohlwissend, dass ich nur "ein töricht Weib" bin.

Ulrike Geilfus

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© 2006 by Ulrike Geilfus
Erstellt am Do, 11.05.06, 10:46:09 Uhr.
URL: http://www.anderssehen.at/alltag/berichte/auslese.shtml


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