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Selbstständig ist nicht das Gleiche
wie selber machen

Ich habe schon öfter erfahren, dass viele Menschen ein recht merkwürdiges Verständnis von Selbstständigkeit haben.

Viele vergleichen mit anderen blinden Menschen, ohne jedoch die unterschiedlichen Bedingungen zu berücksichtigen. Andere verwechseln selbstständig mit selbst machen.

Einmal bezeichnete jemand eine Freundin von mir als unselbstständig, weil sie langsamer las als ich und etwas mehr Schwierigkeiten hatte, sich zurecht zu finden. Ein ziemlicher Blödsinn.

Ich bin seit meiner Geburt blind. Sie ist erst mit Mitte 20 erblindet. Zum Zeitpunkt des unfairen Vergleiches war sie erst 6 Jahre blind und erst seit einem Jahr in einer Rehabilitationsmaßnahme.

Ein anderes Mal wurde ich, im Vergleich zu meinem Arbeitskollegen, als unselbstständig bezeichnet, weil ich öfter mit dem Blindenstock an Essenwagen, Betten und andere Hindernisse auf einem Krankenhausflur anstieß, um selbst, ohne Tuchfühlung mit den Hindernissen, daran vorbei zu kommen. Der Kollege musste nicht so nah an Hindernisse heran, um sie wahrzunehmen und wurde deshalb als selbstständig bezeichnet. Die Tatsache, dass er noch Umrisse sehen konnte, ich hingegen sehe gar nichts, wurde dabei ganz außer Acht gelassen.

Dass sich ein Freund von mir nicht selbst Essen auftat, wurde als unselbstständig gewertet. Es wurde behauptet, er könne sich nicht auftun. Natürlich konnte er. Er empfand dies aber als schwierig und war froh, wenn es ein anderer für ihn tat.

Ein blinder Mensch, der rechts und links andauernd verwechselte und deshalb Orientierungsschwierigkeiten hatte, wurde als unselbstständig bewertet. Warum? Wenn jeder sehende Mensch unselbstständig wäre, wenn er rechts und links verwechselt, dann würden mir aber viele Unselbstständige einfallen.

Eine blinde Frau, die oft mit einer Freundin oder Arbeitskollegin gemeinsam in die Kantine zum Essen geht, viel gemeinsam die Mittagspause draußen verbringt, oder gemeinsam zur Toilette geht, wird als unselbstständig bezeichnet. Eine sehende Frau, die ständig mit ihrer Freundin gemeinsam zur Toilette rennt und überhaupt andauernd zusammenklebt, wird höchstens als unzertrennlich bezeichnet, wenn überhaupt.

Warum? In jeder größeren Gruppe bilden sich oft schnell kleine Grüppchen, die viel beisammen sind. Aber sobald ein blinder Mensch dabei ist, wird er als unselbstständig abgestempelt, weil er so wenig allein tut. Ist der Blinde allerdings doch mal allein und gliedert sich keiner Gruppe an, dann wird sofort vermutet, er könne sich nicht integrieren.

Nicht machen wird mit nicht können gleichgesetzt.

Ich erlebe auch immer wider, dass jemand sauer wird, wenn er beobachtet, dass ich um Hilfe frage: "gestern wollte ich der helfen, und die Blinde wollte nicht! Heute fragt sie auf einmal!"

Dass es sich um zwei ganz unterschiedliche Situationen handelt, machen solche Beobachter sich gar nicht klar. Wenn mich jemand aus meinem eigenen Hauseingang ziehen und zurück auf den Bürgersteig führen will, wenn ich schon den Schlüssel in der Hand habe und nach Hause möchte, dann lehne ich diese Art von "Hilfe"? dankend ab.

Wenn ich jemanden um Hilfe bitte, weil ich gerade auf einem großen Platz stehe, von dem mehrere Straßen, natürlich schräg, und alle ohne Bordstein, abgehen, es keine Möglichkeit gibt, ohne fremde Hilfe die richtige Richtung und richtige Straße zu finden, dann ist das etwas ganz anderes.

Ich finde es schade, dass der Begriff "selbstständig" so oft missverstanden wird.

Für mich bedeutet selbstständig sein, dass ich nicht nur so viel wie möglich selbst mache, sondern auch selbst entscheiden kann, was ich gerade selbst machen möchte und ob ich Hilfe annehme oder nicht. Auch die Möglichkeit selbst einschätzen zu können, ob ich etwas selbst kann, oder ob es ohne zu sehen einfach nicht geht und ich mich deshalb um Hilfe kümmern muss, gehört für mich zur Selbstständigkeit.

Für mich gehört zum Selbstständigwerden, dass man versucht, so viel wie möglich selbst zu lernen und selbst zu machen, bis man so viel wie möglich selbst machen kann. Denn sonst bekommt man ja nicht die Freiheit sich zu entscheiden, was man selbst tun will, und kann nicht einschätzen, was man selbst überhaupt tun kann.

Zum Selbstständigssein dagegen gehört für mich in erster Linie eine gute Selbsteinschätzung und die Fähigkeit, selbst über die Annahme oder Ablehnung von Hilfe und über die Art der Hilfe, die man braucht, entscheiden zu können und dies auch zu tun.

Yvonne Ramm

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© 2005 by Yvonne Ramm
Erstellt am Fr, 21.10.05, 08:01:19 Uhr.
URL: http://www.anderssehen.at/alltag/berichte/selbst.shtml

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