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Auf den Punkt gebracht

Vor Jahr und Tag, als ich noch viel mehr sah als heute, aber viel mehr Angst vor dem Erblinden hatte, ermahnte mich eine Blindenseelsorgerin, ich solle Punktschrift lernen, solange ich noch etwas sehe. Das ging durch Mark und Bein. Da meine Überlebensstrategie die ist, dass es da lang geht, wo die Angst ist, also Konfrontation, machte ich mich auf den Weg.

Lesen ist mein Lebenselexier. Als Kind flüchtete ich in meine Bücher. Als Erwachsene erschließt es mir Welten und das gemütlich daheim. Bücher sind Ablenkung, Anregung, Beruhigung, verbindet mit anderen Mitlesern. Der Gedanke mal ohne Lesen durch dieses Leben zu gehen, grauste mich heftig. Ich habe immer ein Buch in der Tasche. Mein eckiger Freund. Und wie gut der oft duftet. Frisch oder muffig.

Ich entschloss mich Punktschrift zu lernen. Glücklicherweise hatte ein Bekannter gerade eine Ausbildung als Punktschriftlehrer gemacht und war begierig, sein Wissen an den Mann, bzw. an die Frau zu bringen.

Ich schleppte meine Freundin mit, die auch Röhrenguckerin ist. Da saßen wir nun zu zweit vor unseren Fibeln und fühlten über die Seiten. Ich hätte genauso einem Frotteewaschlappen eine Information abringen können. Oder einer warzigen Kröte! Mein Zeigefinger war untauglich, weil auf der Fingerkuppe zu viel Hornhaut vom Zeichnen ist. Also einen anderen Finger wählen. Sind ja genug da.

Schweiß floss. Mein Hinterkopf säuselte, dass es unmöglich sei, mit Fingern zu lesen, ich solle gefälligst die Augen öffnen und nachsehen. Gesagt, getan. Rüffel vom Lehrer, weil ich mogel. Ich war verblüfft, dass er das merkt, wo er doch absolut nichts sehen kann! Er habe gehört, dass ich mit dem Kopf näher zum Papier .... Weia ... Weiterüben. Schweiß rinnt. Die innere Stimme raunt: "Wer Punktschrift lernt, wird garantiert blind." Innere Widerstände, taube Fingerkuppen und der Lehrer heißt ab sofort Peitschenwilli. Nach einer Stunde bin ich durchgeschwitzt und fix und fertig. Es ist nicht die körperliche Anstrengung, sondern die bewußte Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, wirklich und wahrhaftig blind zu werden. Ein Lernen für den Ernstfall, an den ich eigentlich nicht erinnert werden möchte.

Meine Freundin steckt sich zittrig eine Zigarette an. Durch das Rauchen ist die Durchblutung ihrer Finger nicht so gut wie bei mir. Ihre Finger machen schneller schlapp.

Zuhause üben, üben, üben .... ich kann die Texte auswendig. Nach Dotter kommt Olive. Völlig klar! Was tun? Ich erwerbe gebraucht eine Punktschriftmaschine und nagel mir meine eigenen Texte. Sehr schön. Nun stockt der Lehrer. Was ist Kollagen? Endlich ein Frauenvokabular und nicht mehr diese langweiligen Nachkriegsworte.

Ich übe, übe, lese abends meinen Ratten vor. Lese mit der rechten Hand und mit der linken verteile ich Körner. Dann kommen die Satzzeichen ins Spiel. Haarig. Ich leihe mir ein Märchenbuch, aber der Prinz braucht Wochen, um überhaupt auf den Glasberg zu kommen. Ich will auch einen Zaubersattel, denn damit ginge es schneller.

Da fällt mir ein, dass man auch lernen kann, indem man Zettel mit dem zu lernenden an Orte hängt, auf die immer mal der gelangweilte Blick des Betrachters fällt. Das nutze ich und klebe das Punktschriftalphabet überall hin. Ich hoffe mein Unterbewußtsein versteht die Botschaft. Meine Gewürze habe ich mit Punktschrift markiert. Auch da fühl ich so nebenbei drauf und verinnerliche.

Auch in meine Bilder habe ich die Punktschrift integriert. Da ich Konturen und Schatten mit aberwitzig vielen kleinen Punkten erschaffe, punkte ich auch manchmal eine Botschaft mittenrein. Der Blinde kann es nicht fühlen und somit nicht lesen, der Sehende erkennt zwar, kann aber nicht zuordnen. Das macht mir Freude. Künstlerische Frei- und Frechheit.

Ich kann die Vollschrift noch, aber ich nutze sie zur Zeit nicht. Ich lese mit den Augen und genieße es in vollen Zügen. Ab und an brauche ich Entspannung und Abstand. Hörbücher stelle ich mir schön vor, aber selberlesen regt doch viel mehr die Phantasie an. Aber diese Bücher sind grausig voluminös. Meine Lieblingsbücher habe ich mir selber auf Kasette gesprochen. Mein Sohn kam mal ins Zimmer, als ich malte und meine eigene Stimme aus dem Rekorder tönte. Sein Kommentar: Das ist wohl der Gipfel an Egozentrik. Egal!

Ulrike Geilfus

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© by Ulrike Geilfus
Erstellt am Do, 27.02.03, 08:01:19 Uhr.
URL: http://www.anderssehen.at/lesen/punktgebr.shtml

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